„Subjekt nicht Objekt“ Mit Beispielen für ein anderes Forschen
Protokoll
Teilnehmerzahl: 49
Moderation: Gabriele Kreutzner, Beate Radzey
Teil 1: Einstieg
Film „Think Tank“ der (neuen) britischen Non-profit Organisation Innovations in Dementia, deren Aktionen stark auf die Sichtweise und Erfahrungen der mit einer Demenz lebenden Menschen setzt.
(siehe http://www.innovationsindementia.org.uk/thinktank.htm)
Der Film war als Einstieg in ein Brainstorming zu Bereichen und Fragestellungen gedacht, in denen die Teilnehmenden Bedarf für subjekt-orientierte Forschung sehen.
Zunächst wurde ein vorläufiges Verständnis von subjekt-orientierter Forschung zusammengetragen (später präzisiert im Statement/Kurzvortrag von E.Stechl).
Subjektorientierte Forschung:
- geht vom Menschen aus (statt von der Krankheit)
- fokussiert die innere Sichtweise: es geht u.a. darum, das Krankheitserleben, die Krankheitserfahrung für andere verständlich, nachvollziehbar zu machen und ernst zu nehmen
- stützt sich auf eine Vielzahl vorhandener Wissenstraditionen und Arten von Wissen, d.h. es werden nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch geistes- und sozialwissenschaftlichen Positionen, Ansätze, Vorgehensweisen und Methoden einbezogen.
Teil 2: Brainstorming
Was sind zentrale Fragestellungen und Bereiche, in denen es zu forschen gilt?
Wie die Wortmeldungen unterstrichen, wurde eine subjekt-orientierte Forschung im Bereich Demenz als ein Forschungsansatz verstanden, der das Subjekt in seinen mittel- und unmittelbaren gesellschaftlichen/sozialen und relationalen (beziehungsmäßigen) Zusammenhängen verortet und versteht.
Dies als Ordnungsprinzip zugrunde legend, lassen sich die Beiträge in folgende Bereiche und Fragestellungen gruppieren
- Im Fokus: die Person mit einer demenziellen Veränderung
- Welches sind die Ängste und Mechanismen, die ein sich Bekennen zum eigenen Zustand verhindern?
- Thema Scham (auch in der Familie; These: Scham verhindere womöglich die Annahme von Hilfe-Angeboten und Diensten).
- Angst vor/Abwehr von Etikettierung: Menschen mit beginnenden demenziellen Veränderungen fürchten sich womöglich davor, zur (stigmatisierten) Gruppe der Menschen mit Demenz zu gehören.
- Im Fokus: die „Gesellschaft“
- Thema Stigmatisierung, Erfordernis einer weiterentwickelten Stigmaforschung [sowie Forschung zum Thema „Ageism“ / Altersfeindlichkeit)
- Demenz-Bilder: Stigma und gesellschaftlich vorherrschende Bilder von Menschen in späten demenziellen Stadien → verursachen Angst und Abwehr!)
- „The Politics of Othering“: Funktionen eines Denkens, das eine duale Opposition von „wir“ (ohne Demenz) versus „die“ (mit Demenz) schafft. Wie lässt sich dieses Denken überwinden?
- Demenz als „Signatur der Zeit“: Was sagt das Phänomen Demenz über unsere Gesellschaft aus? Was sagt die Art und Weise, wie die Gesellschaft das Phänomen Demenz entwirft/versteht und wie sie mit ihm umgeht? Was lässt sich von Menschen mit Demenz lernen?
- Fehlendes Wissen über Demenz („Schulungen“ seien erforderlich, z.B. im Bereich Polizei oder bei anderen Personen im öffentlichen Dienst, Einzelhandel etc.). Mehr Wissen sei bei der Bevölkerung generell erforderlich; das Umfeld akzeptiere die Krankheit nicht. Forschung: Wie kommt solches Wissen zu den Menschen? Unter welchen Umständen wird es angenommen?
- Erforderlich: Klimawandel in den Kommunen durch entsprechende Interventionen! (Welche erfolgversprechend sind sollte untersucht werden!)
- Heime öffnen: Wir werden Heime zu Lebensorten? Wie lassen sich Menschen mit Demenz, die in Heimen leben, nach draußen, in das Gemeinwesen bringen?
- Fragen /Problemstellungen
- Ist ein frühes „Outen“, das möglichst frühzeitige Feststellen von und Bekennen zu einer demenziellen Beeinträchtigung tatsächlich immer die beste Möglichkeit zur Sicherung einer hohen Lebensqualität – hier fehlt empirische Forschung // Auswertung unterschiedlicher Erfahrungen!
- Wie hilfreich ist eine frühe Diagnose? Wie und unter welchen Bedingungen / Umständen ist sie hilfreich? Wo liegen Probleme?
- Wie kann Mut gemacht werden dafür, Hilfe anzunehmen?
- Heime als unmittelbares Umfeld: In der Praxis besteht, so ein Tln, ein eklatanter Unterschied zwischen projekt-/modellgestützten Heimen und der Vielzahl „gewöhnlicher“ Einrichtungen, die keine derartige Unterstützung erfahren und in denen beispielsweise das Thema Sedierung von Menschen mit Demenz eine große Rolle spielt. Appell an die Forschung, hier genauer und breiter hinzuschauen.
- Bereiche
- Frage nach unerforschten Bereichen / Methoden: Welche Methoden lassen sich bei Menschen in weit fortgeschrittenen Phasen eines demenziellen Veränderungsprozesses einsetzen, die sich nicht mehr, oder nicht mehr in von allen verstandener Weise verbal äußern können? (Methoden der Auswertung filmischer Dokumentation; generell Methoden zur Analyse nicht-sprachlicher Kommunikation bzw. Ausdrucksweisen)
Teil 3: Statements
Die „Statements“ von K. Grüber (zur Arbeit des IMEW), E. Stechl (erste Studie ín der Bundesrepublik zur Wahrnehmung und dem Erleben einer einsetzenden Demenz durch die Betroffenen selbst) sowie Ch. Riesner und E. Sirsch (Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) in Kooperation mit der Universität Witten/Herdecke) vertieften das Brainstorming und brachten einige bereits in der Diskussion angeklungene Argumente vertiefend auf den Punkt:
- Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Instituts für Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), stellte kurz ihr Institut und den dort entwickelten Forschungsansatz vor.
Sie skizzierte kurz den Entstehungshintergrund des IMEW (Menschen mit einer Behinderung im Fokus, entstanden aus den Ethik-Debatten); Forderung nach Finanzierung von Forschung nicht nur im biomedizinischen Bereich;
Fokus/Interesse: den Gemeinsamkeiten zwischen Behinderung und Demenz vertiefend nachgehen;
Position: Fokus auf Menschen mit Demenz, Angehörigen und Umfeld notwendig
Formuliert Zielvorstellung, ein Netzwerk für eine menschenorientierte Demenzforschung zu schaffen - Dr. Elisabeth Stechl erläuterte nochmals sehr konzis den Ansatz einer subjektorientierten Forschung anhand ihrer eigenen Studie „Subjektorientierte Wahrnehmung und Verarbeitung von Demenz“ (SUWADEM).
- In der Diskussion wurde die Forderung nach Bündnissen in der qualitativen, psychosozialen Forschung erhoben. Strukturelle Barrieren könnte man beispielsweise dadurch überwinden, dass qualitative Forschungen durch Vernetzung so angelegt werden, dass Vergleichbarkeit über Einzelstudien und die Zeit hinweg ermöglicht wird. Weiterhin Forderung auch nach Durchführung von bislang kaum vorhandenen Längsschnittstudien (hier sind strukturelle Barrieren zu überwinden), da sich auch das Selbstbild und die Erfahrungen der von einer Demenz betroffenen Person im Prozess verändert.
- Wie kommen die Forschungsergebnisse zu den Betroffenen?
- An welchen Punkten im Wissenschafts-/Forschungsprozess insgesamt und zu welchen Fragen ist die Einbeziehung von Menschen mit Demenz wichtig und sinnvoll?
- Kurze Vorstellung der Überlegungen und Pläne des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen am Standort Witten durch Christine Riesner und Erika Sirsch
Verhältnis von labor- und gerätezentrierter Grundlagenforschung (ca.€ 60 Millionen per annum) und in Witten angesiedelter „Versorgungsforschung“ (€ 1,8 Mio. per annum) ist bekannt; Kolleginnen plädieren dafür, vorhandene Chancen ins Auge zu fassen
In Witten ist man seit November dabei, ein Forschungsprogramm zu präzisieren.
- Basis: Entwicklungen der „Rahmenempfehlungen zum Umgang mit heraus-forderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe“; DCM-Partnerstandort
- 3 Forschungsbereiche:
- Strukturen in der Versorgung/Gesundheitssystem im Bereich Demenz
- Implementierungsforschung, Wissenstransfer in die Praxis
- Assessmentinstrumente und Methoden
- Interessensgebiete z. B.:
- Umgang mit herausforderndem Verhalten,
- Schmerzerfassung in der Akutpflege,
- Familien zu Hause, Erleben, ab Diagnosestellung, was brauchen Familien an Hilfestellungen,
- Wie kann man Lebensqualität messen?
Rückfrage aus dem Publikum nach dem EU-Projekt „Demenz – Ethik im Netz“
- Gefördert u. a. vom BMG und der EU
- Mitglieder aus Luxemburg, Frankreich, Norwegen, Schweiz und Deutschland
- Geplant ist eine mehrsprachige Website für den „grenzüberschreitenden ethischen Diskurs zur Versorgung und den Problemlagen demenzkranker Menschen zu nutzen“.
- Nächstes Arbeitstreffen im Februar 2010
- Getragen von der Alzheimer Europe, wesentliche Unterstützung durch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft
Weitergehende Schritte:
- Konkret am in Kontakt bringen von qualitativ, subjekt- bzw. menschen- orientiert ausgerichteten Ansätzen arbeiten in Richtung der vorgeschlagenen Schaffung eines Netzwerks für „menschenorientierte Demenzforschung“
- Sondierungen, Austausch und weitere Vernetzungen und Ausrichtung der Aktivitäten auf Konzeption und Ausrichtung einer entsprechenden Tagung 2011/12. Demenz Support Stuttgart wird mit den Akteurinnen und Teilnehmenden in Kontakt bleiben und über weitere Schritte informieren.